Aus meiner Kindheit und Jugendzeit

Aus meiner Kindheit und Jugendzeit

Einmal im Jahr musste ich aber mit der Studierstube (meines Vaters) Bekanntschaft machen. Das war zwischen Weihnachten und Neujahr. Da kam der Tag, an welchem es nach dem Morgenessen aus dem Munde des Vaters hieß: „Heute aber werden die Briefe geschrieben! Die Weihnachtsgeschenke nehmt ihr an. Aber wenn’s dann heißt, an die Dankbriefe gehen, da seid ihr zu faul. Darum dran! Und ich will keine verdrossenen Gesichter sehen!“

Oh, diese Stunden, während deren ich mit meinen Schwestern im Studierzimmer saß, die Bücherluft einatmete, die Feder meines Vaters auf dem Papier kratzen hörte, im Geiste bei den Kameraden war, die auf ihren Schlitten den Weg hinter der Kirche heruntersausten … und an Onkel, Tanten, Taufpaten und andere Geber von Weihnachtsgeschenken Briefe schreiben sollte! Und war für Briefe! So etwas Schweres für die Feder ist mir in meinem Leben überhaupt nicht mehr vorgekommen. Alle Briefe hatten naturgemäß drei Teile und denselben Inhalt: 1. Dank für das von dem Betreffenden gespendete Weihnachtsgeschenk nebst Versicherung, dass es von allen Geschenken mir am meisten Freude gemacht habe. 2. Aufzählung der sämtlichen Geschenke. 3. Neujahrswünsche. Bei gleichem Inhalte sollte doch jeder Brief von dem anderen verschieden sein! Und in jedem türmte sich die furchtbare Schwierigkeit auf, einen guten Übergang von den erhaltenen Weihnachtsgeschenken zu den Neujahrswünschen zu finden. von der Not, zu guter Letzt jedes Mal das gerade passende Schlusskompliment anzubringen, will ich gar nicht reden!

Jeder Brief sollte zuerst ins unreine geschrieben und dem Vater vorgelegt werden. Dann hieß es ihn verbessern oder neu bearbeiten und zuletzt auf einen schönen Briefbogen ohne Fehler und ohne Tintenklecks abschreiben.

Oft ging’s zum Mittagessen und ich hatte noch nicht einmal eines von den sechs oder sieben erforderlichen Schreiben entworfen! Jahrelang habe ich die Mahlzeiten zwischen Weihnachten und Neujahr mit meinen Tränen gesalzen. Einmal fing ich gleich nach der Bescherung am Christfest, im Hinblick auf die dadurch unvermeidlich gewordenen Briefe, zu weinen an! Meine Schwester Luise brachte es fertig, jeden Brief anders zu schreiben und immer neue Übergänge von den Weihnachtsgeschenken zu den Neujahrswünschen zu finden. Nie wieder hat mir jemand durch schriftstellerische Gewandtheit so imponiert wie sie.

Der Ekel vor Studierstuben und Briefschreiben, den ich mir mit diesen Dank- und Neujahrsbriefen in der Kindheit geholt habe, hat jahrelang angehalten. Unterdessen bin ich durch die Lebensumstände dahin geführt worden, eine außerordentlich umfangreiche Korrespondenz unterhalten zu müssen. Aber Briefe, in denen man in schöner Weise am Schluss in Neujahrswünsche hineingerät, habe ich noch nicht schreiben gelernt. Darum, wo ich als Onkel oder Taufpate Weihnachtsgeschenke zu stiften habe, verbiete ich immer, dass die Empfänger mir Dankbriefe zukommen lassen. Sie sollen ihre Suppe zwischen Weihnachten und Neujahr nicht mit Tränen salzen, wie ich es tat.

Noch heute fühle ich mich in dem Studierzimmer meines Vaters nicht wohl.

Die Woche nach Weihnachten war die einzige, in der unser Vater streng zu uns war. Im übrigen ließ er uns so viel Freiheit, als Kinder sie ertragen können. Wir wussten seine Güte zu schätzen und waren ihm tief dankbar dafür.

Albert Schweitzer (1875 - 1965): Aus meiner Kindheit und Jugendzeit. München 1991.