Stollenfahrt

Stollenfahrt

Heute noch, wenn ich einen Stollen im Schaufenster sehe, denke ich an die Stollenfahrten der Kinderzeit. Denn wir mussten damals in der nächsten kleinen Stadt backen und mit unseren Herrlichkeiten an Rosinen, Zitronen und gestiebtem Mehl erst eine gute halbe Stunde mit dem Schlitten fahren. Wir hatten alles vorbereitet, Rosinen gelesen, Sukkade geschnitten, unter unablässigem Absingen von Weihnachtsliedern, die unsere junge, blühende Gertrud, die frohherzige Hüterin unserer Kindertage, uns gelehrt hatte. Sie stammte aus Leipzig und war von Kindheit an in der alten Überlieferung des Kirchengesanges wohlgeschult. Sie hatte uns einen kleinen Kanon eingeübt, den sie mit dem Kochlöffel kunstgerecht dirigierte und in dessen Ablauf es völlig unmöglich war, sich den Mund voll Naschwerk zu stopfen. Und kaum war er zu Ende gesungen, begann er von neuem und verstummte höchstens beim Mehlstieben, bei dem wir als Naschkatzen ohnehin außer Betrieb gesetzt waren.

„Fröhliche Weihnacht überall!“ Die Tontöpfe, Wannen und Kübel wurden im Schlitten verpackt, von Decken umhüllt, damit die guten Zutaten nicht „erschraken“. Wir hockten schräg im Schlitten oder standen hinten beim Kutscher auf dem Trittbrett. Dann ging’s zur Mittagsstunde zum Bäcker. Dort wurde nach dem alten Familien- und Geheimrezept der Stollen geknetet, kunstgerecht in seine Form geschlagen, mit butter beträufelt und endlich weiß bepudert. Das ging nicht immer ohne Zwischenfälle ab. Trat da doch die Flöha höchst unfreundlich über ihre Ufer und überschwemmte die Backstube, so dass uns nichts anderes übrigblieb, als in Wannen, mit den hölzernen Bäckerschaufeln stakend, einherzugondeln … „Navigare necesse est“ hatte der kleine Bruder zu jener Zeit soeben als Sextaner gelernt und feuerte uns damit an. Nun, der Stollen gelang trotzdem, denn das Wasser reichte eben bis zum höllischen Feuer des Backofens.

„Fröhliche Weihnacht überall!“ Wenn es ganz dunkel geworden war, die Lichter der festlich geschmückten Kleinstadtläden durch das Schneegestöber blitzten, der Schnee auf der Straße knirschte vor unbändigem Frost, von der Kirche her der Feierabend eingeläutet wurde und wir die Häupter unserer Lieben, die neugebackenen Stollen, zählten, dann kam die Stunde der Stollenfahrt heran. Dann wurden die Stollen dicht nebeneinander in der Tiefe des Schlittens verpackt, von Tüchern warm umhüllt, denn bei jähem Temperaturwechsel hätten sie zerspringen können. Sie hatten die Rangordnung: die gewichtigen großen für Großeltern und Verwandte, die kleineren für uns, die ganz kleinen für die Kinder und endlich diejenigen für unsere Leute und die Schützlinge im Dorfe. Ohne je eine volkskundliche Abhandlung gehört zu haben, begriff ich, dass sie Abbild uns Sinnbild waren vom Kindlein in der Krippe, vom zärtlich gebündelten Wickelkinde, das rund und handlich zu uns kam, schwer von Weihnachtssüßigkeit. Wie ein Kindlein wollte der Stollen behandelt sein, war empfindlich gegen Püffe und Zugluft, wollte mit Jubel begrüßt und von Lichtern umspielt sein. Nie würde es uns in den Sinn gekommen sein, ihn als ein Stück leckeren Kuchens anzusehen. Vom Kuchen trennten den Stollen Welten - und als hoher Gast wollte er feierlich eingeholt sein.

Ungeduldig stampften und zuckten die Füchse, während ihre Schellen übermütig läuteten. Der Kutscher trug eine große schwarze Pudelmütze auf dem Kopf und einen ungefügen riesigen Schafpelz, während seine Beine in gefütterten Kanonenstiefeln steckten. Wir klemmten und zwängten uns in den Schlitten, die Decke aus Fuchspelz wurde übergeknöpft, und nun ging es in flotter, schellenklingender Fahrt durch die Straßen der kleinen Stadt. Flocken stiebten uns ins Gesicht, die Nasenlöcher froren uns zu, an einer Wegbiegung schlingerte der Schlitten und war nahe daran, in den Straßengraben zu fallen. Wie, wenn wir allesamt unter süßem Kuchen begraben würden, wenn im allgemeinen Durcheinander ein jeder an sich raffen würde, was er nur verzehren konnte?

Aber solche umstürzlerischen Träume blieben verwegenes Hirngespinst.

Niemals stürzte die Stollenfuhre, niemals lockerte Unordnung die strengen Weihnachtsgesetze auf. Wie ein köstliches Fähnlein schwebte hinter uns drein ein Duft von Vanille und butterschwerem Gebäck, bis die Braunen den Berg hinankeuchten und die Einfahrt zur Oberförsterei erreichten. Sie nahmen diese letzten Schritte immer gemächlich, im Bewusstesein erfüllter Pflicht und der sicheren Nähe des warmen Stalles.

Unter der Tür stand mit roten Wangen und blitzenden braunen Augen unsere Gertrud, das sangesfrohe Kind, und klatschte in die Hände.

„Fröhliche Weihnacht überall, tönet durch die Lüfte süßer Schall!“ stimmte sie an. Und dann begann das Auspacken und das vorsichtige Hereintragen der Stollen, immer unter Absingen des frohen Kanons, der so rein und fromm erklang, wie er im Hause Johann Sebastian Bachs nicht schöner hätte von Kinderstimmen erklingen können.

Noch sehe ich sie stehen, im Zauber ihrer achtzehn Jahre, ein Stollenwickelkind im Arme, während ihren Lippen hell und makellos der weihnachtliche Lobgesang entströmte.

„Die Mutter mit dem Kinde …“, ging es durch meinen Kindersinn.

Und wieder verband uns unser ländlich frohes Weihnachtserleben mit den Geheimnissen der alten, heiligen Geschichte.

Lenelies Pause